DIE ORGEL IN EINER SICH VERÄNDERNDEN WELT

Denkanstöße von Prof. Dr. Daniel Mark Eberhard
 

Die Auswahl der Orgel als Instrument des Jahres legt es nicht nur nahe, sich angemessen feierlich mit der beeindruckenden und faszinierenden Geschichte und Vielfalt des Instruments auseinanderzusetzen, sondern auch ein kritisches Nachdenken darüber anzustoßen, welche Rolle der „Königin der Instrumente“ im 3. Jahrtausend angesichts mannigfacher Veränderungsprozesse zukommt.

Im Rahmen des folgenden Versuches einer kritischen Standort- und Perspektivenbestimmung mögen die nachstehenden, ausgewählten Reflexionsimpulse das Instrument des Jahres nicht nur einträchtig-konsonant, sondern auch mit realistischem Blick und einiger Dissonanz versehen im Sinne anstehender Entwicklungsaufgaben begleiten:

Trend zur Miniaturisierung von Instrumenten

Beobachtet man den Instrumentenmarkt und die flächendeckende Musikpraxis der vergangenen Jahre im professionellen und privaten Bereich, so fällt – neben der Verwendung traditioneller Instrumente und den Retro-Entwicklungen und Revivals epochaler und stilprägender Instrumente – ein deutlicher Trend zur Miniaturisierung von Instrumenten bis hin zu kostenlosen App-Derivaten und Online-Möglichkeiten des Musizierens auf. Dieser Prozess betrifft insbesondere die Orgel als traditionell massives, großes und mehr oder weniger statisches Instrument.

So ist es zunehmend möglich, über die digitale Klangerzeugung und Verwendung gewichtssparender Materialien äußerst transportable, ansprechend klingende Instrumente anstelle fest installierter Instrumente einzusetzen. Dieser Trend wird auch von Orgelherstellern aufgegriffen und umfasst das Klangspektrum traditioneller Kirchenorgeln ebenso wie den Keyboard-, Heimorgel- und Hammondorgelsektor.

Problematisch dabei bleibt, dass sich die ursprüngliche Größe der Instrumente und deren mehr oder weniger analoge Klangerzeugung und Wirkung nicht vollumfänglich über die Miniaturversionen übertragen lassen. So ist etwa der Klang einer traditionellen Kirchenorgel oder einer Hammondorgel mit schwingendem Leslie-Röhrenverstärker nicht in identischer Weise durch rein digitale Lösungen oder gar Apps reproduzierbar, wenngleich diese Lösungen qualitativ immer überzeugender werden, vielfach eingesetzt werden und zahlreiche andere Potenziale und Vorzüge aufweisen (s.u.).

Ein weiterer Aspekt, den die digitalen Versionen sublimieren, betrifft die Anschaffungs-, Stimmungs- und Wartungskosten von elektromechanisch gesteuerten und mit Naturmaterialien versehen Orgeln, die neben zeitlich-organisatorischer Beeinträchtigung erheblich sein können.

Überschreibung von Traditionen

Der gesamtgesellschaftliche Trend zur Individualisierung und Flexibilisierung von Lebensformen und Wertvorstellungen steht auch im Zusammenhang mit Infragestellung und Überschreibung von Traditionen. Anstelle der Gebundenheit an Konventionen, Ort und Zeit ist die Loslösung von ursprünglichen und die gleichzeitige Erschließung neuer Möglichkeiten und Kontexte zu beobachten.

So sind etwa Kirchengebäude aktuell nur noch ein Ort religiöser Vergemeinschaftung, der durch private Rahmungen oder Orte in der Natur Ergänzung findet. Das private Orgelspiel muss sich nicht mehr nur in den eigenen Privaträumen abspielen, sondern kann durch batterie-/akkubetriebene Instrumente oder Apps an jedem Ort zu jeder Zeit stattfinden. Diesbezüglich ändert sich auch die Funktion der Orgel und der Orgelmusik, die – je nach Kontext – anachronistisch oder gar unpassend erscheinen mag und daher durch anderes ersetzt oder verfremdet wird. Anstelle der Gebundenheit an einen bestimmten Ort und Anlass kann sich beispielsweise ein jugendliches, vorwiegend durch musikalischen Mainstream geprägtes Kirchenpublikum durch die Klangmöglichkeiten der herkömmlichen Kirchenorgel und das damit konnotierte Liedgut und die sakrale Klangästhetik fehladressiert fühlen. Ähnliches gilt für die Reproduktionsversuche Populärer Musik mit Entertainer-Orgeln, denen z.B. aus soziologischer Sicht jegliche Anbindung an originäre Jugendszenen und -kulturen sowie spezifische Macharten von Musik fehlt.

Partizipation versus Anstrengungsbreitschaft

Im Hinblick auf grundsätzlich wünschenswerter Partizipationsbestrebungen wird allerdings das jahrelange Erlernen eines anspruchsvollen Instruments nicht nur hinsichtlich inklusiver Prozesse kritisch hinterfragt und durch niederschwellige, in die Breite gehende Musikangebote im Sinne der Teilhabe aller ergänzt. Dieser Trend führt auch dazu, dass die ursprünglich notwendige Leistung, Disziplin und Anstrengungsbereitschaft von Instrumentalist*innen grundlegend infrage gestellt und der Anspruch eines möglichst aufwandslosen Zugangs zu Musik erhoben wird.

Apps ermöglichen etwa die Produktion ansprechender Sounds ohne jegliche musikalische Vorbildung und stellen dem auf jahreslanges Üben ausgerichteten Musikertum einen sofortigen, häufig kostenlosen Zugang zur Seite. Demgegenüber steht in der Orgelpraxis ein ganzes Bündel an Kompetenzen im Umgang mit dem komplexen Instrument.

Musikalische Diversität

Angesichts der Pluralität von Gesellschaften, Musikpräferenzen und musikalischen Erscheinungsformen im 21. Jahrhundert ist eine Statusänderung der Orgel zu beobachten. Die einstige „Königin der Instrumente“ steht je nach Blickwinkel gleichbedeutend oder untergeordnet neben einer Vielzahl anderer Instrumente sowie musikalischer Macharten und Erscheinungsformen.

Auch wenn die Klanggewalt und Größe einer Kirchenorgel oder originären Hammondorgel immer noch sehr beeindrucken kann, erschweren Faktoren wie mediale Omnipräsenz, akustische Dauerberieselung, großflächige und leistungsfähige Beschallungsanlagen oder faszinierende digitale Instrumentenentwicklungen ein Einlassen mit der entsprechenden Ruhe und Faszination. Gleichzeitig zeigen sich die Limitierungen der Orgeln, etwa zur authentischen Reproduktion der Musik unterschiedlicher Kulturen und musikalischer Praxen, auch wenn gerade der Keyboard- und Heimorgelsektor versucht, zumindest klanglich durch erweiterbare Soundbibliotheken – ungeachtet der jeweils spezifischen, originären Musikformen und -praxen – zu reagieren.

Veränderungen im Kontext Kirche

Der starke Mitgliederschwund kirchlicher Organisationen, Veränderungen allgemeiner Wertorientierungen, und die Diversität von Lebensmodellen beispielsweise im Hinblick auf den traditionellen, sonntäglichen Kirchgang, verändern auch die Rolle der Orgel im kirchlichen Kontext.

So wird das Instrument und die Orgelpraxis nicht selten flankiert oder ersetzt durch andere Formen der Instrumental-/Vokalmusik bzw. durch pop- und weltmusikalische Praxis oder durch medial eingespielte Musik. Da etwa die stilgerechte Darbietung derjenigen Musik, mit der große Teile einer globalisierten und mediatisierten Gesellschaft täglich konfrontiert sind und deren Präferenzen mehr oder weniger bewusst prägen, mit der Orgel kaum oder nur eingeschränkt möglich ist, rückt die Orgel im kirchlichen Kontext hinsichtlich ihrer Bedeutung und Einsatzbarkeit mitunter an den Rand. Dies wird z.T. durch die kirchliche Stellenpolitik im Hinblick auf die abnehmende, dauerhaft-strukturelle Einbindung von Kirchenmusiker*innen begünstigt. Dadurch, dass zudem kaum mehr neue Kirchengebäude entstehen, entfallen auch neue Orte für die Orgel, so dass die bestehenden Instrumente das Bild der Orgel und ihrer Verwendungsmöglichkeiten im Wesentlichen prägen.

Klangästhetische Aspekte versus Zeitgeist

Einerseits ist ein starker Trend zum scheinbar unkritisch-massenhaften Konsum von Musik über Handys und Smartphones, ungeachtet soundästhetischer und klanglicher Defizite zu beobachten. Andererseits wird die Entwicklung von High-End-Produkten vorangetrieben, nicht nur für professionelle Anwendungen, sondern auch im bezahlbaren Rahmen für den Privatbereich. Beiden Trends gemeinsam ist die Provenienz digitaler Produktion, Bearbeitung und Distribution von Musik.

In diesem Kontext fällt die klassische Kirchenorgel aus dem Rahmen. Sie ist zwar elektrifiziert, produziert in der Regel jedoch auf analogem Wege Pfeifenklänge in oftmals überakustischen Räumen. Dieses spezifische Klangbild, das sicherlich variantenreich in Erscheinung treten kann, scheint aus dem ästhetischen, vorwiegend durch die massenmediale Verbreitung von populärer Musik dominierten Zeitgeist zu fallen.

Sowohl die reine Instrumentalmusik als auch die Liedbegleitung bleiben im Hinblick auf afroamerikanisch geprägte Musik und deren stilistische Ableitungen sowie in Bezug auf die Musik anderer Kulturen, wie sie im Kirchenraum erklingen, stark limitiert. Ästhetisch resultieren daraus bisweilen Spannungsfelder für die Adressat*innen, aber auch für die Akteur*innen.

Demgegenüber erfährt die Hammondorgel seit Jahren ein Revival in Form aufwändiger digitaler Reproduktionen und auch die Heimorgel hat sich zum komplexen Entertainerkeyboard bzw. zur Digital Workstation weiterentwickelt. Aus ästhetischer Sicht hat dies jeweils unterschiedliche Konsequenzen: Digitale Simulationen von Leslie-Effekten, der überwiegend entfallene Fußbass, die digitale Klangerzeugung auf Samplebasis etc. reduzieren die körperlich-ästhetische Erfahrbarkeit und lassen ursprüngliche musikalische Praxen und Techniken in den Hintergrund treten bzw. verschwinden.

Allgemeine Vorurteile

Ähnlich wie das Akkordeon leidet auch die Orgel bisweilen unter entsprechenden Vorbehalten und Vorurteilen. So prägt z.B. allein der Begriff „Heimorgel“ vielfach die Vorstellungen davon, auf welche Art welche Musik von welchen Menschen gemacht wird. Auch Kirchenmusiker*innen werden in der Regel – trotz zahlreicher Veränderungsprozesse in der Ausbildung – als reine „Klassiker“ wahrgenommen, denen Offenheit, stilistische Flexibilität und Authentizität eher abgesprochen wird. Das virtuose Spiel mit Händen und Füßen, die vorwiegende Verortung in Kirchen, das bisweilen veraltet anmutende Klangbild etc. führen u.U. zu Brüchen hinsichtlich der Vorstellung davon, wie und wo Musik heutzutage mit welchen Mitteln für wen dargeboten werden soll.

Schlussbemerkung und Anstoß

Die skizzierten Aspekte ließen sich durchaus erweitern, mögen aber zumindest andeuten, dass die klanggewaltige Königin der Instrumente von ihrem Thron verstoßen scheint, wenngleich dieser bislang nicht von eindeutig identifizierbaren Konkurrent*innen eingenommen wurde.

Vielleicht ist es ein Zeichen der Zeit, dass derartige Hierarchien nicht nur infrage gestellt werden, sondern sich schlicht in der Vielfalt ändern. Dies kann ein Potenzial darstellen, um die Orgel und das Orgelspiel konstruktiv weiterzudenken und an die Veränderungen und Erfordernisse der Zeit weiter anzupassen.

Der Autor ist Musiker und Professor für Musikpädagogik und Musikdidaktik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. http://www.daniel-eberhard.de/

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